VIER JUDEN AUF DEM PARNASS
Ein photographischer Dialog: Carl Djerassi - Gabriele Seethaler

Carl Aigner, Direktor, Landesmuseum Niederösterreich,

St. Pölten,

Jänner 2009

Photographie als multiples Bild

Zum wissenschaftlich-künstlerischen Dialog von Carl Djerassi und Gabriele Seethaler

Nicht der Kubismus, wie immer gesagt wird, sondern die Erfindung der Photographie ist es, die das zentralperspektivische Bild der Renaissance radikal aufzubrechen begonnen hat. Sie bedeutet den Beginn der Polyperspektivität, indem sie die Serialität des Bildes und durch die Möglichkeit der Mehrfachbelichtungen die Bildtechnik der „Collage“ begründet.

In subtiler Weise spürt die Biochemikerin und Photographin Gabriele Seethaler dem multiplen Denken des Wissenschaftlers und Schriftstellers Carl Djerassi nach, indem sie diese neuen pikturalen Möglichkeiten des photographischen Bildes auslotet. Von Beginn an stand dabei die Frage nach der pikturalen Identität im Mittelpunkt ihres Interesses. “Identität genotyp-phaenotyp“ betitelt sie eine große Bildserie, bei der das Portraitbild mit dem genetischen Fingerabdruck (Prof. Franz Neuhuber) und  der musikalischen Identität (Komponist Renald Deppe) verschmolzen wird. Rasch wurde das einförmige Portrait in neue wissenschaftliche Erkenntnisse transferiert und das unilineare Photobild aufgebrochen.

Neben der Mehrfachbelichtung als simultane Parallelität werden facettengeschliffene Spiegelbilder und die fast vergessene lentikulare Bildtechnik zu bevorzugten Verfahrens- und Darstellungsweisen. In experimenteller Weise wird damit ein photographischer Approach realisiert, der das Denken von Carl Djerassi gewissermaßen transzendiert und die Frage nach der (sexuellen) Identität im Zeitalter der Gen- und Biotechnologie reflektiert. Seethaler demonstriert eindringlich, dass der Subjektbegriff einer Epoche und Gesellschaft mit deren Bildbegriff unmittelbar korreliert!

„Vor dem Objektiv bin ich zugleich der, für den ich mich halte, der, für den ich gehalten werden möchte, der, für den der Photograph mich hält, und der, dessen er sich bedient, um sein Können vorzuzeigen“, beschreibt der französische Philosoph Roland Barthes die Komplexität des traditionellen Portraits. Seethaler erweitert mit ihren Arbeiten den Blick in die Vielschichtigkeit der personalen Identität im 21. Jahrhundert und stellt damit erneut die Frage nach dem Subjektbegriff und der humanen Identität im  Zeitalter genetischer Reproduzierbarkeit, wie sie so eindringlich Djerassi in seinen Romanen und Theaterstücken vermittelt.

Vier Juden auf dem Parnass. Ein Gespräch.  Benjamin - Adorno - Scholem - Schönberg. Von Carl Djerassi mit Fotokunst von Gabriele Seethaler. Aus dem Amerikanischen von Ursula-Maria Mössner. Haymon, Innsbruck 2008. 212 S.

PRESSE:

Neue Zürcher Zeitung

Karl-Markus Gauß, März 2008

 .....Carl Djerassi, muss man einfügen, ist einer der grossen Kenner und Sammler von Klees Werken. Seinem Text sind insgesamt 117 Bilder beigefügt, die mehr als bloss illustrative Bedeutung haben. Von historischen Fotografien der vier Protagonisten abgesehen, handelt es sich dabei um Arbeiten der österreichischen Fotografin Gabriele Seethaler. Mit der von ihr bevorzugten Montage und Collage unterlegt Seethaler dem Gemälde Klees eine berühmte zeitgenössische Fotografie, so dass wir nicht mehr Benjamins «Engel der Geschichte» zu sehen glauben, sondern – Adolf Hitler. Und tatsächlich weiss Djerassi eine ganze Reihe von Argumenten dafür bereitzustellen, dass Klee im «Angelus Novus» keine utopische, sondern eine verzweifelte, allenfalls satirisch bittere Sicht auf die Welt gegeben hat.

Neudeutung

Das ist, so befremdlich es aufs Erste klingt, eine bedenkenswerte Neudeutung des nicht zuletzt durch Benjamins Text ikonisierten Bildes. Aber warum ist es für Djerassi so wichtig? Weil die Frage, wen Klee mit dem Angelus Novus eigentlich gemeint hat, ihn zu einer erstaunlichen Konsequenz führt. Auf die Frage, was ihnen an ihrem eigenen Äusseren wie auch immer «jüdisch» erscheine, geben die vier Juden verschiedene Antworten, die naturgemäss alle nicht recht weit führen. In der Fiktion ihres Gesprächs unterhalten sie sich sodann über die Fotografien, in denen Seethaler schrittweise ihre Porträts so überschneidet, dass am Ende ein neues, zusammengesetztes Antlitz entsteht.

Und siehe, die Züge des Juden, wie sie sich aus dem Schnurrbart Walter Benjamins, den Ohren Gershom Scholems, den Augen Adornos und dem entschlossenen Blick Schönbergs fügen, gleichen jenen, ja, von Adolf Hitler. Die «Obszönität des Ganzen», wie es Scholem aufgebracht nennt, ist optisch einprägsam dargestellt und bringt Djerassi auf die Vermutung, dass sich der Antisemit in dem Bild, das er sich von «dem Juden» macht, selber hasst.

Carl Djerassi hat sich durch Bibliotheken und Archive gearbeitet, seine Spekulationen sind mit Dokumenten gut unterfüttert. Was er auf der Basis von Fakten bietet: ein anregendes, in der Dialogführung zuweilen papierenes Spiel der Möglichkeiten, an dem die Dogmatiker unter den Adepten der vier Genies manches auszusetzen haben werden.

Carl Djerassi: Vier Juden auf dem Parnass. Ein Gespräch. Mit Fotokunst von Gabriele Seethaler. Aus dem Amerikanischen von Ursula-Maria Mössner. Haymon, Innsbruck 2008. 212 S., Fr. 44.–.

ALBUM/DER STANDARD, 02.08/03.08.2008

  Benjamins Aktentasche

  Walter Grünzweig

......In Szene drei geht es um eine Zentralfigur des Textes, die allerdings nicht auftritt, Paul Klee. Hier kann Djerassi, weltweit einer der bedeutendsten Klee-Sammler, sehr umfassende Kenntnisse und Erfahrungen einbringen, und gerade hier wird die bemerkenswerte Fotokunst von Gabriele Seethaler zu einer notwendigen zweiten Ebene der Handlung. Benjamin, Adorno und Scholem waren nacheinander Besitzer eines Werks von Klee, Angelus Novus, das durch einen Essay Benjamins über den "Begriff der Geschichte" bekannt wurde.

In einem komplexen Argumentationsgang wird - vor allem von Schönberg, dem Außenseiter unter den vier, durch den man manchmal Djerassis Stimme hört - nicht nur Benjamins These als wenig evident nachgewiesen, sondern in einer Serie von Fotomontagen sogar behauptet, dass Klee mit diesem "neuen Engel", entstanden 1920, auf den in München schon aktiven politischen Agitator Adolf Hitler verwiesen haben könnte............

..........Carl Djerassis sehr innovatives und absurd-komisches Buch, dessen High-Tech-Parnass mit Internetanschluss (aber natürlich ohne E-Mail!) ausgestattet ist, wird durch die aufwändige und wunderschöne Bildgestaltung auch zu einem bibliophilen Erlebnis, das man nicht versäumen sollte. AD PARNASSUM!

  DREHPUNKT KULTUR

  Ulrike Guggenberger

  02/05/08

.....So wie Carl Djerassi aus gesicherten Texten schillernde, weiterführende Annahmen kreiert, montiert Gabriele Seethaler aus Photodokumenten der vier Intellektuellen Neuschöpfungen am Computer. Schwebend, überlagernd, glühend Köpfe, Augen, Farben. Träume, Phantasien aus dem Unbewussten, unendlich fortzusetzende Bilder. Ein Geschöpf mutiert zum nächsten. Und immer wieder Engel. Aus dem „Angelus Novus“ von Paul Klee wird ein „Angelus Benjaminianus“ von Gabriele Seethaler.

Was Carl Djerassi und Gabriele Seethaler von Anfang an verbindet, ist die Wissenschaft. Beide aber haben eine Metamorphose durchgemacht. Sie verließen ihr ursprüngliches Fach und wandten sich der Kunst zu. Der Wissenschaftler arbeitet analytisch, der Künstler mimetisch, das führt zu gegenseitiger Befruchtungen - in der Kunst und in der Wissenschaft.

Die Chemikerin und Fotokünstlerin Gabriele Seethaler, 1964 in Linz geboren, ist Christian Doppler-Preisträgerin, sie lebt in Radstadt. Der Naturwissenschaftler und Vater der „Anti Baby Pille“, Carl Djerassi, 1923 in Wien geboren, ist 1938 nach Amerika ausgewandert.

Copyrights der Originalfotografien

Walter Benjamin: © Walter Benjamin Archiv, Akademie der Künste, Berlin.

Arnold Schönberg: © Arnold Schönberg Center, Vienna.

Gershom Scholem: © Gershom Scholem Archive, ARC. 4* 1599, The Jewish National and University Library, Jerusalem, Israel.

Theodor W. Adorno: © Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt am Main.

 

GABRIELE SEETHALERART SCIENCE FUSION
© 2009 Gabriele Seethaler